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Die Digitalisierung und Mobilisierung der Welt wirkt auch auf das Beratungsgeschäft. Face-to-Face-Beratung wird in vielen Branchen zunehmend durch die E-Beratung ersetzt oder zumindest ergänzt. ICTkommunikation unterhielt sich über dieses Thema mit Prof. Dr. Reto Eugster, dem Leiter des Weiterbildungszentrums an der Fachhochschule St.Gallen.

Interview: Karlheinz Pichler

ICTkommunikation: Die Fachhochschule St.Gallen (FHS) bietet mit „CAS Online Services – Online-Beratung und Social Media in NPOs“ einen speziellen Lehrgang für Non-Profit-Organisationen an. Um was geht es hier konkret? Was für Voraussetzungen müssen die Besucher dieses Formates mitbringen?

Reto Eugster: Wir erleben, wie Face-To-Face-Beratung in verschiedenen Branchen durch Online Services abgelöst oder ergänzt wird. Dies gilt für den Buchhandel ebenso wie für die Reise- oder Tourismusbranche. An diese Entwicklung haben wir uns gewöhnt. „Think Mobile“ meint auch, Beratungs¬informationen situativ zu beziehen, spontan und niederschwellig.

Doch wie sieht es in den Branchen aus, in denen „Soft-Faktoren“ die erfolgskritische Grösse sind, beispielsweise bei psychologischer Beratung, in der Medizin oder im Sozialwesen? Services wie Medgate (Medizin), Tschau (Jugendberatung) oder Lilli (Sexualberatung) zeigen, dass Online-Beratung auch hier Einzug hält. Diese Entwicklung, die zurzeit branchenintern gerne unterschätzt wird, verändert die Anforderungen, die an Professionals gestellt werden. Erwartungen an die medizinische Beratung beispielsweise verändern sich, schleichend und doch deutlich. Patienten und Klienten informieren sich vor der Konsultation. Von den Professionals erwarten sie die „soziale Eichung“ der Information. „Beantworten sie mir nur eine einzige Frage: Ist das ein Grund, Angst zu haben?“ Patienten treten als Googleristi auf, welche die ärztliche Expertise prinzipiell hinterfragen. Unser Lehrgang befähigt Professionals, sich auf die veränderte Situation einzustellen.

ICTkommunikation:
Was verstehen Sie genau unter einer Online-Beratung?

Reto Eugster: "Online-Beratung" ist zum Sammelbegriff geworden. Wir unterscheiden Informations-, Experten- und Prozessberatung. Die Begriffe sind weitgehend selbsterklärend. Prozessberatung meint einen Beratungstyp, bei dem der Klient prozesshaft befähigt wird, eigene Erkenntnisse zu gewinnen, zum Beispiel in der psychologischen Beratung. Er bleibt „Experte seiner Lebenswelt“. Vereinfacht gesagt, werden heute vor allem Informations- und Expertenberatung „online“ angeboten.


ICTkommunikation:
Ist die E-Beratung eher als Ergänzung zu einem Face-to-Face-Setting zu sehen oder handelt es sich hier um eine komplett eigenständige Methodik?

Reto Eugster: Eine wichtige Frage. Online-Beratung ist qualitativ etwas anderes als Face-to-Face-Beratung und erfordert eine andere Methodik. Diese ist ein Schwerpunkt in unserem Lehrgang. Services wie Medgate beispielsweise ersetzen den Hausarzt nicht, aber sie verändern, was ich von ihm erwarte. Um ein erste Einschätzung bei einem medizinischen Alltagsproblem zu bekommen, bin ich nicht mehr bereit, in einem Wartezimmer die Zeitschriften des letzten Sommers zu lesen. Ich warte auch nicht mehr tagelang auf Laborergebnisse. „Online“ das heisst hier: umstandsloser, kostengünstiger und mit einem gesteigerten Dienstleistungsverständnis.

ICTkommunikation:
In welchen Bereichen empfiehlt sich für NPOs der Einsatz von E-Beratungen?

Reto Eugster: Ich drehe die Frage um: Wo empfehlen sich Formen der Online-Beratung nicht. Dort, wo es darum geht, abseits von Standardisierungen Expertise zu vermitteln, wo es um Prozesse situativen, unmittelbaren Verstehens geht, ist Face-To-Face die Form der Wahl. Gefragt sind hier mehr und mehr High Professionals. Nicht mehr ihre Expertise ist die Pointe. Gefragt ist eine strikt kommunikationsfähige Expertise. High Professionals bewähren sich im Einmaligen des Einzelfalls.

ICTkommunikation: Was sind die Vorteile von Formen der Online-Beratung?

Reto Eugster: Unsere Befragungen und Erfahrungen zeigen, dass Klienten vor allem das geringere Klientifizierungsrisiko schätzen. Dies bedeutet: Ich kann in der Regel anonym bleiben, werde nicht mit Diagnosen behaftet, es besteht kein potenzielles Stigmatisierungsrisiko, ich kann „experimentelle“ Fragen stellen, kann sie mehreren Experten stellen usw. Und wenn alles schief läuft, bleibt mir die Delete-Taste. Ich bleibe User und werde nicht gleich zum Klienten.

ICTkommunikation: Gibt es in der E-Beratung spezielle Konzepte was die Vorgangsweise anbelangt?

Reto Eugster: Mittlerweile sind verschiedene Methodiken entwickelt worden. In unserem Lehrgang vermitteln wir ausgewählte Methoden der E-Beratung. Wie soll ein E-Beratungsprozess strukturiert werden? Welche Textsorte eignet sich bei Antworten? Wie kann angesichts des offenen Settings Verbindlichkeit erzeugt werden? Das sind beispielhaft Fragen, die sich unter einer methodischen Perspektive stellen.

ICTkommunikation:
Was für technische Voraussetzungen müssen gegeben sein, um E-Beratungen überhaupt durchführen zu können?

Reto Eugster: Es gibt mittlerweile einige bewährte Software-Tools. Grundsätzlich braucht es Lösungen, die stabil sind und das Problem der (punktuellen) Anonymisierung lösen.

ICTkommunikation: Inwieweit spielen in die E-Beratung auch rechtliche Gesichtspunkte herein? – Stichwort etwa Datenschutz?

Reto Eugster: Das ist ein grosses Thema. Je nach Form der Online-Beratung ist damit sogar das Schlüsselmoment benannt. Bei Cloud-Lösungen stellt sich beispielsweise die Frage nach dem Speicherort, weil über diesen die rechtlichen Rahmenbedingungen definiert sind.

ICTkommunikation: Im Lehrgang „CAS Online Services“ wird Online-Beratung im Doppelpack mit Social Media angeboten. Inwieweit lassen sich diese beiden Bereiche zusammenführen?

Reto Eugster: Damit ist ein Zukunftsthema angesprochen. Denn heute ersetzen oder ergänzen „informelle Peer-Coaches“ mehr und mehr Services von Professionals. Ein Hausarzt erklärte mir: „Wenn ich dem Patienten erkläre, er leide unter einem 'Gerstenkorn' im Auge, erforscht er bereits auf dem Nachhauseweg via Google das Phänomen. Zu Haus angekommen, setzt er eine Meldung in seinem Social-Media-“Freundeskreis“ ab und trifft prompt auf jemanden, der so was schon durchgestanden hat.“ Social Media meint hier ein globales Netzwerk, das – vielleicht paradoxerweise - zur Nischenbildung neigt. So entstehen diese „Freundeskreise“, die zu einer Art „Selbsthilfezirkel“ werden können. Medienkompetente Akteure sind in der Lage, die Vertrauenswürdigkeit der Freunde einzuschätzen. Dazu haben sich Social-Media-Praktiken und -Routinen heraus gebildet. Denken Sie in diesem Zusammenhang auch an die Veränderungen bei den Kaufentscheidungen. Die Social-Media-Reputation eines Anbieters ist zu einer entscheidenden Grösse geworden.

ICTkommunikation:
Wird die E-Beratung mittel- oder längerfristig die klassische Face-to-Face-Beratung verdrängen können?

Reto Eugster: Das glaube ich nicht. Die digitale Fotografie hat nicht dazu geführt, dass die analoge verschwunden ist. Aber die analoge Fotografie hat sich verändert, ist exklusiv geworden. So könnte sich dereinst das Verhältnis zwischen den beiden Beratungsansätzen darstellen.

ICTkommunikation: Bietet die FHSG selber in Bezug auf Weiterbildungen auch E-Beratungen an?

Reto Eugster: Es gibt uns nun seit 20 Monaten. Wir sind daran, Bildungs- und Weiterbildungsfragen in Communities einzubringen, gezielt und peer-orientiert. Doch solche Entwicklungen brauchen Zeit. Stellen sie mir diese Frage in 12 Monaten wieder...

ZUR PERSON
Prof. Dr. Reto Eugster ist Leiter des Weiterbildungszentrums an der Fachhochschule St.Gallen (FHS). Er ist Co-Leiter des Masterstudiums Social Informatics und Leiter des Zertifikatslehrgangs Beratung (Kooperation mit FH Vorarlberg). Zudem ist er in Lehre und Consulting (z.B. Mediation) tätig. www.fhsg.ch/weiterbildung

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Prof. Dr. Reto Eugster, Leiter des Weiterbildungszentrums an der Fachhochschule St.Gallen (FHS). Er ist Co-Leiter des Masterstudiums Social Informatics und Leiter des Zertifikatslehrgangs Beratung (Kooperation mit FH Vorarlberg). Zudem ist er in Lehre und Consulting (z.B. Mediation) tätig. www.fhsg.ch/weiterbildung