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2013 gab das Fraunhofer-Institut für Arbeitswirtschaft und Organisation IAO eine gross angelegte Studie zum Thema "Industrie 4.0" heraus. Im Oktober dieses Jahres folgte das Schweizer Beratungsunternehmen Deloitte mit einer kleineren Studie zum "Werkplatz 4.0". Auf Youtube finden sich unzählige Videos, und bereits werden erste Seminare angeboten, um Führungskräfte auf die neuen Herausforderungen vorzubereiten. Doch was bedeutet der Begriff überhaupt und welche Implikationen hat er für Wirtschaft und Gesellschaft? Wir haben dazu ein Interview mit dem Philosophen und Wirtschaftsinformatiker Oliver Bendel geführt.

Interview: Nathalie Baumann, Historikerin, am Institut für Wirtschaftsinformatik der Hochschule für Wirtschaft FHNW in den Bereichen Kommunikation und Weiterbildung tätig

ICTkommunikation:
Oliver Bendel, um das Schlagwort "Industrie 4.0" kommt man nicht mehr herum. Was ist das Revolutionäre daran?

Oliver Bendel: Das Revolutionäre ist die Verbindung: Automatisierung, Autonomisierung, Flexibilisierung und Individualisierung kommen zusammen. Die Produktionsanlage kann selbst Entscheidungen treffen, mit Blick auf aktuelle Anforderungen agieren und auf unterschiedliche Kundenbedürfnisse reagieren. Sie ist gar keine Anlage mehr im klassischen Sinne, sondern besteht aus zahlreichen unterschiedlichen Komponenten, aus cyber-physischen Systemen, aus mobilen, intelligenten Robotern, aus Sensoren und Aktoren, die wiederum Teil des Internets der Dinge sein können.

Eventuell greifen Begriffe wie "Industrie 4.0" und "Werkplatz 4.0" zu kurz. Es geht um viel mehr: Um die Verflechtung der privaten, gesellschaftlichen und wirtschaftlichen Bereiche. Wie ich fahre, was ich trage, was ich kaufe, was ich anklicke, was ich anhöre, was ich lese, wo ich bin, wer ich bin – das alles kann Einfluss auf die Produktion haben. Wie der Verkehr fliesst, welche Nachfrage herrscht, welche Preise für Rohstoffe gelten, was in den sozialen Medien geschieht – das alles und noch mehr kann sie verändern.

ICTkommunikation: Die erste industrielle Revolution wurde durch die Dampfmaschine möglich. Die zweite durch die Fliessbandtechnik und die dritte durch den Computer. Welche Entwicklung ist nun die treibende Kraft für diese vierte Umwälzung?

Oliver Bendel: Die vierte industrielle Revolution bringt die bisherigen Entwicklungen zusammen. Wichtig ist der Fortschritt bei der Künstlichen Intelligenz, bei den Industrie- und Servicerobotern, bei der Elektrotechnik, bei der Vernetzung. Und die Art, Produkte neu zu denken. Zu ihnen können Dienstleistungen, Verbrauchsmaterialien und Erweiterungsmöglichkeiten gehören. Man spricht in Wissenschaft und Wirtschaft von hybriden Produkten. Diese können nach speziellen Wünschen gestaltet sein, trotz der industriellen Fertigung. 3D-Drucker sind dabei entscheidend.

ICTkommunikation:
Handelt es sich hierbei um eine Umwälzung, welche die gesamte Wirtschaft erfasst oder nur bestimmte Branchen?

Oliver Bendel: Zunächst einmal geht es um die Fabrik und damit um Produktion und Weiterverarbeitung. Wie bereits angedeutet, werden aber weitere Bereiche erfasst, wie Mobilität, Gesundheit sowie Klima und Energie. Und es entstehen Hybride, sodass Produktion und Dienstleistung verschmelzen. Diesen Trend kennen wir schon seit längerem, und nicht immer sind die Ergebnisse befriedigend. In einem Outlet bei Chur sollte ich für meine neuen Schuhe eine Versicherung abschliessen. Das wollte ich unter keinen Umständen. Die Umwälzungen erfassen viele Branchen und bringen verschiedene Branchen zusammen. Und sie bringen neue Branchen hervor.

ICTkommunikation: Worin liegt das Potenzial der Industrie 4.0 für Unternehmen?

Oliver Bendel: Unternehmen können Mitarbeitern langweilige, anstrengende, gefährliche Tätigkeiten ersparen, sie können menschliche Fehler ausschliessen, und zwar sowohl bei Handlungen als auch bei Entscheidungen. Sie können blitzschnell auf neue Marktanforderungen reagieren und individuelle Bedürfnisse berücksichtigen. Sie können Kunden und Partner in die Prozesse integrieren und sie das Hirn benutzen und Hand anlegen lassen.

ICTkommunikation:
Dass Kunden selbst Automaten bedienen und Waren einscannen, ist nicht neu.

Oliver Bendel: Ja, das kennen wir bereits. Neu ist hingegen, dass ihr Geschmack, ihre Perspektive und ihre Nachfrage auf direkte Weise mit dem Angebot gekoppelt werden und sie immer mehr zu Designern, Konstrukteuren und Erfindern werden. Zu Prosumenten, die Konsumenten und Produzenten zugleich sind. Allerdings tun wir vielleicht etwas, das wir nie tun wollten, und wir müssen es in Zukunft womöglich tun. Natürlich dürfen wir nicht alles auf die Industrie 4.0 schieben.
Aber nochmals zurück zum Potenzial für Unternehmen. Ein Grund dafür, warum die Idee der Industrie 4.0 überhaupt entstanden ist, ist die Forderung, in Deutschland weiterhin im grossen Massstab zu produzieren. Manche sind ja der Ansicht, dass sich Industriestaaten in Postindustriestaaten verwandeln sollten, die irgendwann die Industrie ganz aus ihrem Namen und ihrem Programm werfen und zu Dienstleistungsgesellschaften werden. Ich halte das in diesem Falle für gefährlich, und insofern halte ich die Strategie der deutschen Bundesregierung für richtig.

ICTkommunikation: Richtig inwiefern?

Oliver Bendel: Die BRD muss weiter Produktionsstandort bleiben, und mit Hilfe der Industrie 4.0 kann das Land wettbewerbsfähig sein und werden. Auch dort, wo man in den letzten dreissig Jahren in Billiglohnländer ausgelagert hat. Um noch deutlicher zu sprechen: Die Strategie ist richtig im ökonomischen Sinne. Im sozialen und moralischen Sinne haben wir enorme Herausforderungen zu vergegenwärtigen. Mittelfristig wird es sehr unangenehm werden. Langfristig lernen wir vielleicht, unserem Leben eine neue Richtung und einen neuen Sinn zu geben. Wenn die Maschine am Ende eines 30-, 40-jährigen Prozesses versklavt und das Auskommen gesichert wäre, könnte man zum Künstler, zum Wissenschaftler, zum Weinbauern oder einfach zum Privatier werden. Heute verschwenden wir die besten Stunden des Tages und die besten Jahre des Lebens.

ICTkommunikation: Das klingt wie die Befreiung des Menschen aus der Lohnarbeit und Aussicht auf ein selbstbestimmtes Tun. Auch damit könnte wohl nicht jede bzw. jeder auf Anhieb leben.

Oliver Bendel:
Das stimmt. Die einen würden aufblühen, die anderen eingehen. Für viele Menschen ist es wichtig, dass sie vorgegebene Tagesabläufe und eindeutige Arbeitsanweisungen haben. Das wird uns natürlich früh eingeimpft. Die Schule ist wohl auch eine Anstalt zur Dressur und Verwahrung. Wenn man Zeit hat und Langeweile, kommt man auf dumme Gedanken. Und auf kluge. Die Freiheit, die man uns lässt, von Anfang an, könnte uns guttun. Und sie könnte letztlich zu unserer Wettbewerbsfähigkeit beitragen.

ICTkommunikation:
Unternehmen werden enorm investieren müssen, um diese nächste Revolution zu überstehen: Reorganisation, Umschulung der Mitarbeitenden, Ausbau der Infrastruktur etc.

Oliver Bendel:
Es steht ein gewaltiger Umbau an. Die Industrie 4.0 ist ein superkomplexes System. Es müssen technische Standards und Schnittstellen sowie innovative Vermittlungseinheiten geschaffen werden. Mensch-Maschine-Interaktion und Maschine-Maschine-Kommunikation werden neu definiert. Sie sprechen die Umschulung der Mitarbeitenden an. Fast jede wird den Umgang mit Informations- und Kommunikationstechnologien zum Gegenstand haben. Dabei sprechen wir nicht nur von geschlossenen Systemen, wie es bisher die Regel war, sondern von offenen, eben von solchen Welten, in denen cyber-physische Systeme dominant sind, nicht mehr nur vom reinen Internet der Computer und Computernetze, sondern vom Internet der Dinge.

Was wir im virtuellen Raum tun, hat Auswirkungen im realen. Wir werden zunächst zu Ingenieuren, Informatikern, Wirtschaftsinformatikern und Experten für Künstliche Intelligenz, oder zu Benutzern, zu Anwendern, zu Assistenten der Maschinen.
Eigentlich bräuchte man eine Art gesellschaftliches Wissensmanagement, denn bald werden wir nicht mehr wissen, wie wir mit handwerklichen und künstlerischen Fähigkeiten etwas hervorbringen. Die Handarbeit wird sich auf das Drücken von Tasten beschränken oder den Anweisungen der Datenbrille folgen. Solange eine Umschulung der Mitarbeitenden notwendig ist, müssen wir uns noch keine Sorgen machen. Wenn wir nur noch den Befehlen der Maschinen gehorchen, wenn wir ihre Werkzeuge sind, wird es ernst. Und eines Tages werden wir in den Fabriken überflüssig. Einige wenige Menschen werden die Dinge und Vorgänge kontrollieren.

ICTkommunikation: Wie muss man sich den zukünftigen Industriearbeiter, die künftige Industriearbeiterin vorstellen?

Oliver Bendel:
In der Industrie 4.0 wird eine weitgehende Automatisierung angestrebt. Zunächst gewinnen die Entwickler und Integrierer der Systeme sowie das Management. Sie haben die nächsten zwanzig Jahre viel zu tun. Manche Systeme werden anfangs noch von Menschen bedient und beobachtet. Entsprechend werden die Arbeiter zu Angestellten, die Benutzer sind. Andere Systeme werden vollständig alleine gelassen bzw. elektronisch überwacht. Manche mischen sich unter die Menschen, die sich an die Konkurrenz aus Stahl und Plastik gewöhnen müssen.
Den Robotern wiederum wird beigebracht, sich auf eine bestimmte Art und Weise zu verhalten. Sie müssen vorsichtig und rücksichtsvoll vorgehen, müssen Schäden bei Anlagen und Lebewesen vermeiden. Dies ist ein Aufgabengebiet für die soziale Robotik und die Maschinenethik. Der künftige Arbeiter ist also ein Benutzer und ein Beobachter. Er ist einer, der mit den Maschinen arbeitet, unter ihnen und für sie. Und dann ist er weg. Oder er behauptet sich als Cyborg. Warum sollte ein Unternehmen nicht jemanden bevorzugen, der schneller und ausdauernder ist, der besser sieht, der besser hört? Im Sport haben wir diese Diskussionen bereits.

ICTkommunikation:
Inwiefern wird sich diese vierte industrielle Revolution auf die Gesellschaft auswirken?

Oliver Bendel:
Stellen werden verlagert und abgebaut. Kundenbedürfnisse werden im Zentrum stehen. Dabei ist weiter mit einem Raubbau an der Natur zu rechnen. Die alten Industrien haben Masse produziert. Nun produziert die Masse. Es wird nicht daran gedacht, dass jedes Ding aus Öl, Holz, Metall oder Stein besteht. Natur wird vernichtet und verwandelt. Die Industrie 4.0 schreibt sich Ressourceneffizienz auf die Fahnen. Das bedeutet aber nicht, dass der Ressourceneinsatz insgesamt sinkt.

ICTkommunikation:
Wo liegen weitere Risiken?

Oliver Bendel:
Glauben wir an eine Dystopie oder an eine Eutopie, eine Idealgesellschaft? Ich denke, die Wirklichkeit wird beide Tendenzen beinhalten. Risiken entstehen durch die hohe Komplexität und die enorme Vernetzung. Für Kriminelle wird es immer einfacher, in die Systeme einzudringen und Unheil anzurichten. Eingebettete Software ist oft nicht besonders gut geschützt. Risiken gibt es für Arbeitnehmer, für Kunden, für Bürger. Über den Verlust des Arbeitsplatzes haben wir schon gesprochen. Über die Umwelt auch. Weitere Risiken bestehen in der Beschränkung der Freiheit, der Privatsphäre, der technischen und informationellen Autonomie. Unsere persönlichen und aggregierten Daten werden permanent genutzt, um die Produktion zu optimieren. Big Data und Big Brother sind Verwandte.

Nicht zuletzt sind rechtliche Probleme vorhanden. Wer haftet, wenn die Smart Factory trotz ihrer vermeintlichen Intelligenz am Markt vorbeiproduziert? Wenn die mobilen Roboter in der Fabrik zu gefährlichen Kollegen werden? Ich tendiere eher zum Pessimismus. Aber wer weiss, vielleicht liegen wir in vierzig Jahren alle in den Hängematten und lassen uns von Robotern bedienen. Vielleicht schaffen wir es, von Sklaven der Maschinen wieder zu ihren Meistern zu werden. Vielleicht malen, dichten, spielen und lieben wir rund um die Uhr. Vielleicht haben wir gelernt, unsere Zeit zu nutzen.

Industrie 4.0 – Zum Begriff
"Industrie 4.0" ist der Begriff für die vierte industrielle Revolution. Sie zeichnet sich gemäss Oliver Bendel u.a. durch "Individualisierung bzw. Hybridisierung der Produkte und die Integration von Kunden und Geschäftspartner in die Geschäftsprozesse" aus. (Gabler Wirtschaftslexikon). Maschinen, Anlagen und Produkte können also zunehmend miteinander kommunizieren. Industrielle Revolutionen wirken sich jeweils massgeblich darauf aus, wie Waren produziert werden und Arbeit organisiert wird.
• Die erste industrielle Revolution wurde durch die Dampfmaschine ausgelöst. Sie ermöglichte die Entstehung grosser Fabriken und eine industrielle Produktion überhaupt.
• Treiber der zweiten industriellen Revolution war die Fliessbandfertigung. Sie schuf die Voraussetzungen für einen dramatischen Produktionszuwachs.
• Die dritte industrielle Revolution brachte die Automatisierung in die Fabriken: Computer wurden eingeführt und ersetzten vormals von Hand ausgeführte Arbeitsschritte zunehmend.
Die Bezeichnung "Industrie 4.0" wurde im Rahmen der Hannovermesse im Jahr 2011 eingeführt. Im Zusammenhang mit "Industrie 4.0" wird auch von der "Smart Factory" oder der "Fabrik der Zukunft" gesprochen (nba).

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Prof. Dr. Oliver Bendel lehrt und forscht als Professor für Wirtschaftsinformatik an der Hochschule für Wirtschaft FHNW mit den Schwerpunkten E-Learning, Wissensmanagement, Social Media, Mobile Business, Informationsethik und Maschinenethik