Sie bewegen sich als Prototypen durch die Städte und Landschaften, in den USA genauso wie in Europa und Asien: selbstständig fahrende oder autonome Autos. Ein Verkehr, der von ihnen geprägt wird, ist eine Vision. Allerdings eine, deren Umsetzung von Herstellern und anderen Unternehmen verfolgt, von verschiedenen Disziplinen erforscht und in Gesellschaft und Medien eifrig erörtert wird sowie technisch gesehen ohne weiteres möglich ist.
Gastbeitrag von Oliver Bendel, Philosoph und Wirtschaftsinformatiker. Der Autor lehrt und forscht als Professor an der Hochschule für Wirtschaft FHNW
Man führt immer wieder Google als Pionier an, Uber als Folger. Aber die Automobilbranche in Europa lässt sich nicht abhängen. Im Folgenden werden neun Thesen zum Verkehr mit autonomen Autos formuliert und diskutiert.
1. Autos als Computer und Roboter
Selbstständig fahrende Autos sind zum einen rollende Computer. Der Anteil der Car IT ist in ihnen ausserordentlich hoch. Das heisst, dass sie die Anfälligkeiten von Computern haben, dass sie Softwarefehler und Ergonomieschwächen aufweisen und von Hackern bzw. Crackern manipuliert werden können, in Bezug auf die Daten und das Fahren selbst. Zum anderen sind die PKW mobile, intelligente Roboter. Sie navigieren sich durch eine mehr oder weniger komplexe Umwelt, beobachten diese mit Hilfe von Kameras und Sensoren, werten die Daten aus und bewerten sie. Sie kommunizieren mit anderen Autos (Car-to-Car Communication), mit anderen Maschinen (Machine-Machine Communication) und mit Maut-, Sicherheits- und Verkehrsleitsystemen. Sie sind Dinge, enthalten Dinge und sind Teil des Internets der Dinge. Auto fahren bedeutet, dass man einen Computer benutzt und von einem Roboter benutzt wird.
2. Die erweiterte und gebildete Realität
Das autonome Auto bewegt sich, wie das konventionelle, durch die Realität der Städte und Landschaften. Es benutzt physische Strassen und Brücken. Hinzu kommt die Virtualität, die es in Zusammenarbeit mit anderen Systemen erzeugt. Die Strasse ist für den Computer zuerst virtuell vorhanden, bevor sie real befahren wird. Während sie befahren wird, werden ihre Beschaffenheit und ihre Richtung analysiert. Fahrzeuge, Menschen, Tiere und Subjekte und Objekte aller Art werden ins Verhältnis zur Strecke und zum Auto gesetzt und hinsichtlich Schnelligkeit, Anzahl, Form und Grösse erfasst, um die Art und Dichte des Verkehrs und die Existenz von Gefahr abzuschätzen. Die Maschine erstellt ein Modell der Wirklichkeit und von sich selbst und transportiert sich als Modell und Maschine durch Modell und Wirklichkeit, wobei das Modell angepasst und die Wirklichkeit gebildet wird. Im besten Fall wird ein Stau aufgelöst, bevor er entsteht, ein Tier verschont, bevor es getötet wird.
3. Hören, sehen, wedeln, drücken
Über die richtigen Benutzerschnittstellen streitet man bei Fahrerassistenzsystemen und im Wagen verbauten bzw. von Insassen getragenen Geräten. Auditive Schnittstellen lenken stark ab, was sich aber durch Gewöhnung ändern könnte, visuelle locken den Blick weg von der Fahrbahn, ausser wenn man die Informationen direkt auf der Windschutzscheibe oder über die Datenbrille einblendet. In diesem Fall kann immer noch die Konzentration beeinträchtigt sein. Manchmal stört eine Möwe beim Betrachten des Meers. Eine weitere Option ist die Steuerung durch Mimik und Gestik. Auch andere Körperregionen können einbezogen werden, etwa das Gesäss oder der Oberschenkel, die Druck ausüben können wie Hand oder Fuss. Da man in der Regel sitzt, liegt das nahe, womit man sitzt. Bei autonomen Autos wird die menschliche Steuerung eine Rolle spielen, wenn man mit den Aktionen nicht einverstanden ist oder aus anderen Gründen übernehmen will. Von zentraler Bedeutung wird sein, dass die Schnittstellen immer einsatzbereit, ausserordentlich schnell und möglichst fehlerfrei sind.
4. Laufställe aus Zeit und Raum
Die Prototypen, denen man in unseren Städten begegnet, werden selten als solche erkannt. Manche Wissenschaftler und Hersteller gehen davon aus, dass jene sich einfach zu serienreifen Typen entwickeln und beliebig vermehren. Aber autonome Autos werden vor allem in bestimmten Bereichen und zu bestimmten Zeiten anzutreffen sein. Notfallspuren werden umfunktioniert, spezielle Trassen geschaffen. Laufställe für Autos, in denen diese sich und andere nicht beschädigen. Man wird seinen Wagen situativ autonom sein lassen. So wird man ihm in Mailand sagen, dass er bis Ligurien selbstständig fahren soll. Der Beifahrer kann in dieser Zeit arbeiten, lernen, spielen und essen, sogar mit Messer und Gabel. Vor Genua wird er wieder zum Fahrer, und wenn er Freude daran hat, kurvt er auf den Höhen des Apennins herum. Nach der Geisterstunde beginnt die Roboterstunde, und sie dauert gespenstisch lang, bis vier oder fünf Uhr. Autonome Autos bewegen sich gerne auf leeren Strassen, und sie sehen nachts mehr als Menschen, für die alle Katzen grau sind.
5. Die Gestaltung des Raums
Der Raum ausserhalb der Fahrzeuge muss oder kann also umgestaltet werden. Allerdings nicht nur die Strassen, Brücken und Kreisel, sondern ebenso die Parkhäuser, in denen passgenaue Stellflächen ausreichen, wenn die Insassen vorher aussteigen, die Drive-Ins und Shopping-Malls, zu denen die Autos führerlos geschickt werden können und die diese möglichst schnell und sicher beladen können müssen. Die Freiheit, die für andere Tätigkeiten entsteht, wird von Wissenschaft und Wirtschaft untersucht. Man überlegt beispielsweise, die Sitze wie in Strassenbahnen oder Zügen anzuordnen und Bildschirme zur Unterhaltung und für die Arbeit einzubauen. Ferner sind Liegen und Betten zu erwägen. Zugleich muss der Raum so gestaltet sein, dass der Insasse wieder zum Fahrer werden kann, wenn es erforderlich ist, und damit die Fahrbahn und die Verkehrsteilnehmer im Blick hat. Möglich sind adaptive Sitzapparate, letztlich Roboter im Roboter, die auch beim Aussteigen und Weiterbewegen behilflich sein könnten. Überhaupt wäre das Matrjoschka-Prinzip nützlich, vor allem dann, wenn man ganz zu Hause geblieben ist. Der kleine Android, der aussteigt und besorgt, ausgräbt, einpackt, was auch immer.
6. Die ungleiche Verbreitung
Ein vollkommen autonomer Verkehr schaltet menschliches Versagen, abgesehen von Planungs- und Programmierfehlern, weitgehend aus und reduziert die Zahl der Verkehrstoten vermutlich stark. Er ist aber aus mehreren Gründen unwahrscheinlich. Er wird von der Mehrheit der Bevölkerung nicht akzeptiert werden, weil man gerne selbst fährt und entscheidet und nicht möchte, dass die Maschinen über einen entscheiden. Ein Teil der Bevölkerung wird sich überdies kein Roboterauto leisten können. Autonome Busse und Trams können Menschen aufnehmen, die nicht im eigenen selbstständig fahrenden Auto sitzen wollen oder können. Weltweit gesehen wird es Regionen mit hoher, mit mittlerer und mit geringer Roboterdichte geben. Da sich die Teilnehmer von Land zu Land, von Kontinent zu Kontinent bewegen, müssen übergreifende Regeln und Systeme geschaffen werden. Eine totale Standardisierung und Harmonisierung ist wegen der faktischen Unterschiede bei der Art und Verbreitung der Wagen und Technologien schwierig.
7. Die Moral der Maschinen
Selbstständigkeit und Entscheidungsfähigkeit ermöglichen Moralfähigkeit. In der Adoleszenz der Automobile ist die Maschinenethik gefragt, eine u.a. in den USA und in der Schweiz betriebene Disziplin, die sich mit der Moral von Maschinen befasst. Der robotergeprägte Verkehr wird anhand klassischer Beispiele wie des Trolley- und des Fetter-Mann-Problems diskutiert. Es geht um die Frage, ob man den Tod einer Person in Kauf nehmen oder herbeiführen darf, um das Leben von Menschen zu retten. Erst wird philosophiert, dann programmiert. Autonome Autos sollten nicht zu komplexen moralischen Maschinen werden, nicht Urteile darüber fällen, ob ein junger Mensch mehr wert ist als ein alter, ein gesunder mehr als ein kranker. Sie sollten nur in einfachen Situationen über Alternativen befinden, etwa Vollbremsungen bei Menschen und grösseren Tieren einleiten, wenn kein Hintermann vorhanden ist, oder kleineren Tieren eine Chance lassen. Einfache moralische Maschinen als einfache Lösung.
8. Haftung, Einigung und Markierung
Selbstständige Entscheidungen sind zudem in rechtlicher Hinsicht von Belang. Die Hersteller werden versuchen, die Haftung auf den Kunden und den Bürger zu übertragen. Diese möchten Fahrerassistenzsysteme benutzen, ohne mit einem Fuss im Gefängnis zu stehen, wenn sie auf dem Gaspedal bleiben, und als Fussgänger möchten sie um ihre Rechte und Pflichten wissen, wenn nachts die Roboterautos unterwegs sind. Bei Unfällen könnten sich die Kraftfahrzeuge selbstständig einigen. Dies ist besonders interessant, wenn der Besitzer gar nicht anwesend ist, wie bei einem geparkten Wagen, der beschädigt wird, womöglich von einem anderen, der zum Einkaufen geschickt worden ist. Produzenten und Politiker haben erkannt, dass der rechtliche Rahmen vordringlich ist für den Markt autonomer Autos. Vielleicht wird auf dem Blech, wenn es noch Blech ist, ein Hinweis kleben, etwa "Kann Leben gefährden" oder "Ich bremse auch für Menschen". Wahrscheinlicher sind lange AGB und neue Policen.
9. Sich selbst putzende Vehikel
Wenn PKW auf die beschriebene Weise selbstständig werden, entwickeln sie Meinungen und Marotten. Sie machen Rennen auf ihren Lieblingsstrecken, sie hören ihre Musik, vom Album "Route 666" bis zum Song "Highway to hell". Sie haben individuelle Vorstellungen, was ihr Äusseres betrifft, wechseln die Farbe und das Muster ihrer Karosserie, die nichts anderes als ein Display ist, und ihre Gestalt – wie ein Transformer. Zumindest aber putzen und pflegen sie sich selbst, wie Sally aus der gleichnamigen Kurzgeschichte von Isaac Asimov aus dem Jahre 1953. Der berühmte Science-Fiction-Autor hat den Verkehr mit autonomen Autos visionär beschrieben. In seiner Gedankenwelt können sich nicht alle diese eigenwilligen Geschöpfe leisten, die miteinander kommunizieren, sich selbst entscheiden und bewusst töten können. Und sich eben selbst reinigen und verwöhnen, hier eine Unterbodenpflege, dort ein Peeling für den Lack. Wellness für das Auto.
Erst mit der neunten These wurde der Boden der Tatsachen verlassen, und auch nur an der einen oder anderen Stelle. Das Auto in der Kurve auf zwei Rädern, voller Freude und Vorfreude. Jegliches Nachdenken, ob mit heiligem Ernst oder mit humorvollem Elan, hilft dabei, Möglichkeiten des Verkehrs mit autonomen Autos und dessen Chancen und Risiken zu erkennen. Spass und Phantasie sind nicht die schlechtesten Ratgeber für Wissenschaft und Technik. Nicht umsonst taucht in der Informationsethik, die sich mit der feindlichen Übernahme von PKW sowie der Beeinträchtigung der informationellen und persönlichen Autonomie des künftigen Fahrers bzw. Beifahrers beschäftigen muss, der Begriff des Cyberhedonismus auf. Sie soll nicht nur über Verbote und Gebote nachdenken, sondern auch über die Lust, etwas zu erfinden, zu entwickeln und zu gebrauchen. Wie wird die Geschichte mit den Roboterautos weiter- und ausgehen? Sobald wir in der Zukunft angekommen sind, wissen wir mehr.
Zum Autor
Oliver Bendel ist Philosoph und Wirtschaftsinformatiker. Er lehrt und forscht als Professor an der Hochschule für Wirtschaft FHNW mit den Schwerpunkten E-Learning, Wissensmanagement, Social Media, Wirtschaftsethik, Informationsethik und Maschinenethik.