thumb

Welcher gestandene Manager kann sich noch in die Situation eines drei oder gar vier Jahrzehnte jüngeren Bewerbers versetzen? Es lohnt sich einmal nachzufragen, um Verbesserungspotenziale im Recruiting und Onboarding zu identifizieren.

Gastkommentar von Marc Lutz, Managing Director der Hays (Schweiz) AG

Die Beschäftigungslage ist heute in der Schweiz noch immer auf hohem Niveau. Stellenwechsel bei talentierten Arbeitskräften ergeben sich keineswegs immer aus einer Notwendigkeit heraus. Zum Teil ziehen Kandidaten einen Wechsel in Erwägung, um ihren CV attraktiver werden zu lassen, zum Teil auch nur, um den eigenen Marktwert zu überprüfen. Für Unternehmen, die Fachkräfte suchen, ergeben sich dadurch Gelegenheiten – allerdings nur, wenn sie ihre Recruiting-Prozesse beherrschen.

Die Schweizer Wochen- und Wirtschaftsmedien haben in letzter Zeit darüber berichtet, wie hoch die Beträge sind, die grosse Unternehmen jährlich für Zeitarbeitskräfte ausgeben. Bei Swisscom sind es über eine Milliarde, bei der Credit Suisse über drei Milliarden Franken. Eine vollständige Automatisierung des Bewerbungsprozesses ist dabei für beide Seiten hilfreich. Algorithmen helfen bei der Vorsortierung der eingehenden Bewerbungen. Wer bestimmte massgebliche Kriterien nicht erfüllt, erhält automatisch und umgehend eine Absage. Dies erspart auf beiden Seiten zusätzlichen Zeitaufwand.

Heute orientiert sich das Tempo der Bearbeitung der Bewerbung also primär an der IT-Landschaft eines Unternehmens. Grössere Unternehmen haben hier die Nase vorn, weil sie täglich eine Vielzahl an Bewerbungen erhalten und verarbeiten müssen. Allerdings stossen die Prozesse auch an Grenzen. Wenn ein Unternehmen, dass sich selbst als unkonventionell bezeichnet, mit automatisierten Standardprozessen nach aussergewöhnlichen Menschen sucht, klingt das aus der Perspektive der Bewerber unter Umständen widersprüchlich. Zumindest wird sich die „herausragende Persönlichkeit“ nicht individuell betreut und wertgeschätzt fühlen, wenn während des gesamten Bewerbungsprozesses kein persönlicher Ansprechpartner Kontakt sucht, sondern die gesamte Kommunikation über jobs@xyz.ch verläuft.

Aus Sicht der Bewerber sind vor allem Transparenz und Schnelligkeit gefragt. Hier schneiden die automatisierten Standardprozesse am besten ab – zumindest in der Theorie. Im praktischen Einsatz, so berichten Bewerber, versagen viele der Portale: „Netzwerküberschreitungen“ oder andere technische Probleme erschweren den Kontakt zum Unternehmen. Da hilft dann auch kein persönliches nachhaken und die Frage, ob denn Bewerbungsunterlagen aufgrund technischer Probleme per E-Mail zugesendet werden dürfen. Denn dies wird in aller Regel mit dem Hinweis auf die automatisierten Prozesse verweigert. So entgehen den Unternehmen geeignete Kandidaten.

Unternehmen in der Bringschuld

Die Unternehmen haben eine grössere Bringschuld, als sie denken, wenn es darum geht, die besten neuen Mitarbeiter zu rekrutieren. Ein nach 08/15-Standardmustern ablaufendes Bewerbungsgespräch ist verschwendete Lebenszeit und lässt Bewerber zum Wettbewerb oder ins Ausland abwandern.

Selbst die Grosskonzerne schneiden aus der Sicht der Kandidaten zum Teil nicht sehr vorteilhaft ab: Sie berichten über zerknitterte CVs, unvorbereitete Gesprächsteilnehmer und ein allgemeines Desinteresse am Bewerber. Wie soll ein Kandidat vor Inspiration, Leidenschaft und Motivation sprühen, wenn sein Gesprächspartner nicht einmal den Namen des potenziellen neuen Mitarbeiters kennt und während des Gesprächs gelangweilt aufs Handy tippt? In Bewerbungsgesprächen bei kleineren Unternehmen, berichten Kandidaten, ist die Betreuung persönlicher. Allerdings kommt es scheinbar nicht selten vor, dass interne Machtkämpfe zwischen etablierten Mitarbeitern bereits im Bewerbungsgespräch ausgetragen werden. Ein effektiverer Weg, gute Kandidaten zu vergraulen, wird sich kaum finden lassen.

Ein Datenstrom aus kryptischen Zahlen- und Buchstabenabfolgen

Stimmen Professionalität und die Chemie im Gespräch, liegt es in der Hand der Kandidaten, subtil herauszuarbeiten, warum sie die Bestbesetzung für die offene Position sind. Dabei entscheiden letztlich Persönlichkeit und Authentizität – und nicht ein Datenstrom aus kryptischen Zahlen- und Buchstabenabfolgen.

Aus der Fülle von Daten im Bewerbungsprozess den geeigneten neuen Kollegen zu finden ist ohne Frage eine Herausforderung. Aber der Aufwand eines strukturierten und geplanten Bewerbungsprozesses lohnt sich, denn letztlich ist nichts für die Zukunft des Unternehmens so entscheidend wie die Qualität der Mitarbeitenden. Schon ein einzelner motivierter und serviceorientierter Mitarbeiter kann dem Unternehmen signifikante Umsatzsteigerungen einbringen. Eine kritische Überprüfung der Abläufe hilft, die Voraussetzungen für das Gelingen der Rekrutierung spürbar zu erhöhen.

22084-22084haysmarclutz20150712.jpg
Gastkommentarist Marc Lutz, Managing Director der Hays (Schweiz) AG