thumb

Die Wissenschaftlerin Julia Shaw forscht an der Schnittstelle von Gedächtnis und Künstlicher Intelligenz und untersucht beispielsweise, wie künstliche Intelligenz dabei helfen kann, sich besser an Lebensereignisse zu erinnern. Shaw, die am 13. Juni auch auf dem Cebit Artificial Intelligence Summit auf der Grand Central Stage in Halle 27 sprechen wird, erläutert im Interview, wie man das menschliche Gedächtnis manipuliert und wie Künstliche Intelligenz das menschliche Gedächtnis erweitern kann.

ICTkommunikation: Was brauchen Sie, um ein Gedächtnis zu hacken? Und wie schnell geht das?

Julia Shaw: Es ist überraschend einfach, Erinnerungen zu manipulieren und jemandem einzureden, dass er oder sie etwas gesehen oder getan hat, was tatsächlich nie stattgefunden hat. Alles, was man dazu braucht, ist das Vertrauen der betreffenden Person, Falschinformationen (die einen frei erfundenen Verlauf vergangener Ereignisse nahelegen) und die Vorstellungskraft des Betreffenden. Weil unser Gehirn so flexibel und kreativ ist, kann es sich plausible Geschichten aus nur einigen wenigen Informationen zusammenstricken und sich einreden, dass es sich um so Erlebtes handelt.

ICTkommunikation: Was sind die grössten Vorteile und die grössten Gefahren einer solchen Gedächtnisintervention?

Julia Shaw: Wir müssen wachsam sein und aufpassen, dass Dritte – seien es Nachrichtenquellen, Autoritätspersonen oder vertraute Menschen wie Familienangehörige und Freunde – nicht unsere Erinnerungen manipulieren, ob absichtlich oder unabsichtlich. Andere Menschen können unsere Wahrnehmung der Realität dramatisch verändern. Das kann sich auf unser Selbstbild, unsere Konsumgewohnheiten und sogar unser Wahlverhalten auswirken. Die Vorstellung, dass Menschen wichtige Entscheidungen auf eine Vergangenheit stützen könnten, die so nie stattgefunden hat, ist erschreckend.

Falsche Erinnerungen – das hört sich zunächst mal wie ein Makel an, ein Fehler des Gehirns. Aber das ist nicht so. Falsche Erinnerungen sind ein wunderbares Nebenprodukt derselben Systeme, die auch für Kreativität und Intelligenz zuständig sind und die es uns ermöglichen, Probleme zu lösen. Unser Gehirn ist nicht dafür gemacht, sich die Vergangenheit völlig detailgetreu in Erinnerung zu rufen. Unser Gehirn ist für etwas sehr viel Grossartigeres konzipiert, nämlich für Abstraktion und flexibles Denken. Falsche Erinnerungen sind bloss das Ergebnis dieser erstaunlichen Flexibilität unseres Gehirns.

ICTkommunikation:
Kann künstliche Intelligenz das menschliche Erinnerungsvermögen in nicht allzu ferner Zukunft erweitern oder sogar völlig ersetzen?

Julia Shaw:
Ja, ich denke, dass AI bestimmte Aspekte des menschlichen Erinnerungsvermögens erweitern und ersetzen kann. Bei Erlebnissen, die später bedeutsam werden könnten – wenn man beispielsweise Zeuge einer Straftat wird oder andere äusserst belastende Lebenserfahrungen durchmacht –, sollte man davon unbedingt Aufzeichnungen erstellen. Das ist die beste Verteidigung gegen Memory-Hacking.

Der Mensch neigt dazu, sein Gedächtnis zu überschätzen. Hier kann es hilfreich sein, seine Eindrücke aufzuzeichnen, wenn sie noch frisch in Erinnerung sind. Deshalb beschäftige ich mich im Rahmen meiner jüngsten Forschung damit, mithilfe von AI skalierbare praktische Memory Tools zu schaffen, die wichtige Lebensereignisse aufzeichnen können. Meine erste Anwendung, "SPOT" (talktospot.com), soll Menschen helfen, sich Einzelheiten zu Schikanierung und Diskriminierung am Arbeitsplatz ins Gedächtnis zu rufen. Mein Ziel ist eine Zukunft, in der wir Gedächtnislehre und AI verknüpfen, um ein besseres Arbeitsumfeld zu schaffen. Hier wird meiner Meinung nach die nächste kognitive Revolution stattfinden. Wenn wir uns der Grenzen unseres Gehirns bewusst sind und die entsprechenden Prozesse durch Technologie ersetzen können, dann haben wir einen entscheidenden Schritt nach vorne getan.



Der Online-Stellenmarkt für ICT Professionals