Die Möglichkeiten zur visuellen Darstellung mit Augmented Reality reichen von Wohnraumgestaltung, über maschinelle Abläufe bis hin zu kompletten Produktionsanlagen (Bild: zVg)

Neue Techniken wie Augmented Reality (AR) sind auf bestem Wege, die Szenarien in den Wirtschafts- und Arbeitswelten umzuwälzen. Anna Binkert, Innovationsmanagerin bei der in Oftringen domizilierten GIA Informatik, gibt im Gespräch unter anderem Einblicke, wie Unternehmen aller möglichen Branchen künftig von solchen Techniken profitieren könnten.

ICTkommunikation: Gibt es Branchen in denen das Potenzial von Augmented Reality besonders hoch sein könnte?

Anna Binkert: Ich bin der Ansicht, dass sich für Unternehmen nahezu aller Branchen Optionen auftung, auf virtuelle Weise mit ihren Produkten zu interagieren. Einem grösseren Publikum bekannt ist ja wohl das Smartphone-Spiel „Pokémon Go“. Die Videospiele-Industrie feiert es als erfolgreichste Augmented-Reality-(AR-)App aller Zeiten. Der Gedanke von Gamifikation lässt sich auch im Tourismus ausgezeichnet einsetzen. Für viele Metropolen existieren schon City Guides als AR-Apps. Dadurch wird Werbung dort platziert, wo ein Informationsbedarf besteht. In der Fertigungsindustrie wiederum sind nicht nur die Existenz von Wartung und Service entscheidend. Auch die Effizienz von Prozessen lässt sich durch eine bessere Logistik und Navigation inner- und ausserhalb von Produktionsstätten steigern. Ein Beispiel sind vorgegebene Routen, die auf dem Display erscheinen, sobald man einen bestimmten Gegenstand scannt. Die Städteplanung bietet ebenfalls viele Möglichkeiten: Die Verantwortlichen der Düsseldorfer Rheinbahn zum Beispiel bestellten jüngst für 120 Millionen Euro Züge, vergassen aber zu berücksichtigen, dass diese für einige Bahnhöfe zu breit waren. Durch eine Begehung der Lokalitäten mit einem virtuellen Zug hätte man eine solche Fehlplanung vermeiden können. Objekte lassen sich mit Hilfe von AR bequem in die Umgebung einpassen, für die sie bestimmt sind. Bei einem Einrichtungshändler können sich Kunden zum Beispiel ein neues Sofa via AR-App virtuell ins Wohnzimmer stellen und vergleichen, ob es von Design und Grösse her zur bisherigen Einrichtung passt.

ICTkommuniation: Dies sind konkrete Anwendungsfälle. Kann AR aber auch dazu beitragen, die Ablaufprozesse einer Organisation zu verbessern?

Anna Binkert: Dank solcher neuer Möglichkeiten könnten etwa die Servicetechniker eines Herstellers in die Lage versetzt werden, auf das Sichtfeld von Servicemitarbeitenden eines Kunden vor Ort zuzugreifen, ohne eine vorausgehende kostspielige Einsatzplanung vorzunehmen und den Reiseweg zurückzulegen. Der betriebliche Nutzen kann für eine Unternehmensorganisation also sehr gross sein: Man spart Kosten, vermeidet Verluste durch Produktionsstillstand und kann Effizienz, Qualität und Zufriedenheit durch eine schnelle Fehlerbehebung forcieren. Mit AR lässt sich auch die Beziehung eines Kunden zu Produkt und Service beflügeln.

ICTkommunikation: Wird AR bei GIA intern auch eingesetzt?

Anna Binkert: GIA ist ein Unternehmen der Müller Martini Gruppe und dadurch bereits historisch mit der Fertigungsindustrie vertraut. Durch die technischen Anforderungen der Produkteentwicklung bewegen wir uns schon lange im CAD-Umfeld und gehen mit Industrie 4.0, dem Industrial Internet of Things, und AR diesen Weg. Unser Ziel ist es, Fortschritt nicht nur zu ermöglichen, sondern aktiv mitzugestalten.

ICTkommunikation: Wo konkret bringen Sie AR zum Einsatz?

Anna Binkert: ERP- und CAD-Systeme etwa, zentrale Bereiche für GIA seit Jahrzehnten, sind ein guter Nährboden für AR. So gilt es unter anderem, die Datenhaltung, Integration und Transformation von Daten im passenden Kontext zu nutzen und zu interpretieren, um mit CAD die Visualisierung und Weiterentwicklung zu ermöglichen und im ERP – bestenfalls automatisiert – direkt eine Aktualisierung der Stückliste oder Ersatzteilbestellung vorzunehmen. Ferner betrachten wir die Unternehmensprozesse der Kunden ganzheitlich. Dabei arbeiten wir eng mit unseren Lieferanten Microsoft, PTC und SAP zusammen. Gemeinsam verfolgen wir nicht nur die Devise „Daten sind das neue Gold“, sondern bauen das IT-Fundament, um aus den vorhandenen Daten Wissen zu gewinnen und damit die Anwenderunternehmen zu stärken.

ICTkommunikation: Könnten Sie einige Tipps dazu geben, wie man Augmented-Reality-Projekte realisiert?

Anna Binkert: Zunächst sollten Technologieprojekte, um erfolgreich sein zu können, vom Businessnutzen getrieben werden. Dabei sollte man sich die zu lösenden Probleme stets vor Augen halten. Erst danach geht es um den geeigneten Technologieeinsatz. Auch eine Vision zu haben ist zentral. Bei zu ambitionierten Vorhaben ist ein iteratives Vorgehen von Vorteil, bei dem Fortschritt und Vision inkrementell revidiert werden. Kleine Schritte und ein lauffähiges Produkt nach jeder Iteration sind entscheidend, um die Vision zu konkretisieren und Irrwege früher zu erkennen. Die Einführung neuer Technologien führt oft zu einer Veränderung der Arbeitsvorgänge. Eine lernende und offene Organisationskultur, die den Endbenutzer – etwa den Servicetechniker mit einer AR-Brille – ins Zentrum stellt, hilft hier, Widerstände abzubauen und die Transformation zu erleichtern. Kommunikation und Kreativität sind vor allem bei der Identifikation des Businessnutzens unabdinglich. Mit Hilfe von Coaching lassen sich geeignete Kreativitätstechniken einsetzen und Anwendungsbereiche ausserhalb der Komfortzone erkennen. Ein Perspektivenwechsel hilft dabei, über den Tellerrand zu blicken und revolutionäre Ideen zu entwickeln. Agile Methoden haben in den letzten Jahren nicht nur in der Softwareentwicklung Einzug gehalten. Design Thinking, Lean Startup und Scrum sind als Werkzeuge des Digitalisierungszeitalters allzeit präsent. Was haben diese Methoden gemeinsam? Sie fordern die Agilität von einer Organisation. Eine Kombination der Methoden und das Aneignen einer agilen Einstellung verspricht einen zielorientierten Einsatz der Mitarbeitenden.

Augmented Reality macht Projekte anhand von 3D-Modellen sicht- und erlebbar – lange bevor sie realisiert werden (Bild: zVg)
Augmented Reality macht Projekte anhand von 3D-Modellen sicht- und erlebbar – lange bevor sie realisiert werden (Bild: zVg)
Anna Binkert ist Innovationsmanagerin bei der Oftringer GIA Informatik (Bild: zVg)
Anna Binkert ist Innovationsmanagerin bei der Oftringer GIA Informatik (Bild: zVg)