Hermann-Josef Haag (Bild: DSAG)

Lange Zeit standen die Gesundheitsbranche und insbesondere Krankenhäuser vor der Herausforderung, dass es keine Nachfolge für die SAP-Branchenlösungen SAP Patientmanagement (bekannt als IS-H) für Gesundheitseinrichtungen und Cerner i.s.h.med, das klinische Informationssystem von Partner Cerner gab. Entsprechend gross war der Wunsch der Deutschsprachigen SAP-Anwendergruppe (DSAG) nach Klarheit für die Branche. Beim DSAG-Jahreskongress in Leipzig ist SAP gemäss einer Aussendung diesem nun nachgekommen – doch das Ergebnis enttäusche die Anwender, heisst es. De facto werde es keine Nachfolgelösung für die SAP-Branchenlösung SAP Patientmanagement in der S/4Hana-ERP-Welt geben.

SAP hat für die Software SAP ERP Central Component (SAP ECC) eine Mainstream-Wartungszusage bis zum 31.12.2027 gegeben, an die sich eine kostenpflichtige, optionale Extended-Wartung bis Ende 2030 anschliesst. Während zahlreiche DSAG-Umfragen belegten, dass immer mehr Unternehmen sich auf eine Migration ihres Systems in die neue S/4Hana-Umgebung vorbereiteten oder bereits migriert seien, stelle der Wechsel zu dieser neuen SAP-ERP-Generation Gesundheitsdienstleister wie Kliniken oder Krankenhäuser vor besondere Herausforderungen. Denn: Bis zuletzt sei unklar gewesen, wie es für Anwender aus dem Gesundheitswesen, die bisher auf IS-H gesetzt haben, weitergehen werde. "Nun herrscht Gewissheit: Für die Branchenlösung IS-H wird es ab 2031 nur noch kundenspezifische Wartung geben. Aus DSAG-Sicht ist das sehr enttäuschend", konstatiert Hermann-Josef Haag, DSAG-Fachvorstand Personalwesen & Public Sector.

Stattdessen will SAP zeitnah Optionen für das modulare Krankenhaus-IT-System bieten. Anbieter von Krankenhausinformationssystemen bekommen ab nächstem Jahr zusätzliche Industriestandards unterstützende Schnittstellen sowie generell die SAP Business Technology Platform (BTP) als Erweiterungsplattform zur Verfügung gestellt.

Zum jetzigen Zeitpunkt bedeute dies aus Sicht der DSAG für die Zukunft der Krankenhäuser und Kliniken: SAP wird über die bestehenden Schnittstellen (API) hinaus weitere unterschiedliche Möglichkeiten bieten, um Krankenhausinformationssysteme, die zukünftig die bisherigen IS-H-Funktionalitäten abbilden sollen, in das S/4Hana-Core-System zu integrieren. Zu diesen Optionen gehören die Foundation Services, eine Anbindung über die FHIR-Schnittstelle – in der Cloud. Die bis dato in IS-H abgebildeten Funktionalitäten für Patientenadministration und -abrechnung sollen zukünftig durch moderne Krankenhausinformationssysteme (KIS) verschiedener Hersteller abgedeckt werden. Inwiefern bzw. ob das klinische Informationssystem von Cerner (i.s.h. med) dies künftig ermöglichen werde, sei noch offen. SAP wolle ihren Kunden mit dieser Strategie die Wahl ihres modularen Set-ups für die Patientenabrechnung und ihre klinischen Prozesse überlassen. Es gelte nun abzuwarten, wie schnell SAP-Partner diese notwendigen Erweiterungen für die Anbindung der KIS-Systeme an S/4Hana realisieren könnten.

"Als Anwendervereinigung begrüssen wir, dass nun Klarheit herrscht. Dennoch wirkt dieser Schritt von SAP so, als würde der Software-Hersteller ganzheitlich Abstand zur Branche nehmen. SAP zieht sich in einem Bereich, für den wir schlichtweg eine gute und zukunftsfähige Lösung brauchen, aus der Entwicklung eigener Anwendungen zurück und setzt auf ein Partner-Ökosystem, um die Komponenten für ein modulares KIS der Zukunft bereitzustellen", so Walter Schinnerer, DSAG-Fachvorstand Österreich. Als Leiter des SAP Competence Centers der IT-Services der österreichischen Sozialversicherung ist er selbst von der strategischen Entscheidung von SAP betroffen. "Aufgrund zahlreicher Länderspezifika trifft uns die Abkündigung in Österreich und auch in der Schweiz besonders hart", so Walter Schinnerer.

Die SAP-Health-Product-Strategie setze auf ein systemspezifisches Vorgehen je Kunde – es soll also kundenindividuell geschaut werden, wie die Zukunft software-seitig gestaltet werden könne. "SAP setzt voraus, dass die Digitalisierungsstrategie in den Kliniken und Krankenhäusern klar sind und ausreichend Partner zur Umsetzung zur Verfügung stehen", sagt Hermann-Josef Haag. Hier erwarte die DSAG, dass der Software-Hersteller Partner für die Bereitstellung des Krankenhausinformationssystems benenne. Aus Sicht der Anwendervereinigung dürfte es jedoch schwierig sein, Anbieter zu finden, die das bisherige Leistungsportfolio von IS-H abdecken können. "Es ist leider zu befürchten, dass wir als Anwender infolgedessen künftig noch weitere Anbieter benötigen werden, insbesondere für die Patientenabrechnung. Das ist nur schwer zu akzeptieren", betont Schinnerer.

Heute hätten Krankenhäuser in der Regel ein SAP-ERP-System mit integrierten Funktionalitäten für Patientenabrechnung und -management sowie ein KIS, so die DSAG weiter. "Zukünftig sollen sie ein S/4Hana-Kernsystem haben, das über Schnittstellen an ein KIS-System angebunden wird, das die Funktionen für Patientenmanagement und -accounting enthält", erläutert Michael Pfeil, DSAG-Arbeitskreissprecher Healthcare, und ergänzt: "Die gravierende Änderung für uns besteht darin, dass ein gut funktionierendes, integriertes System aufgetrennt werden soll, was ein grosser Aufwand ist – und das ohne ersichtlichen Mehrwert."

Die strategische Entscheidung von SAP beeinflusse den gesamten Gesundheitssektor. "Die Klinken und Krankenhäuser werden jetzt ihre Strategien überdenken. Zudem werden sie nach neuen Partnern suchen oder mit etablierten darüber sprechen müssen, wie sich der benötigte Leistungsumfang erreichen lässt. Fakt ist ausserdem: Der Rückzug von SAP aus diesem Bereich bedeutet, dass nun Prioritäten neu vergeben und Projektpläne überdacht werden müssen", kommentiert Pfeil.

In Folge der Ankündigung hat es sich die DSAG auf die Fahne geschrieben, ihre Mitgliedsunternehmen möglichst konkret zu unterstützen. "Einerseits wollen wir musterhafte Referenz-Architekturvorschläge erarbeiten", so Haag. Andererseits wird die Interessenvertretung ihren Mitgliedern kurzfristige Angebote für einen länderübergreifenden Austausch zur Verfügung stellen, um gemeinsame Lösungsvorschläge zu erarbeiten. Gleichzeitig wird die DSAG unabhängig von SAP das Gespräch mit Partnern suchen, um tragfähige Lösungen für die neu entstandenen Herausforderungen zu finden.

Über die DSAG
Die Deutschsprachige SAP-Anwendergruppe (DSAG) ist einer der einflussreichsten Anwenderverbände der Welt. Mehr als 3'800 Mitgliedsunternehmen bilden ein Netzwerk, das sich vom Mittelstand bis zum DAX-Konzern und über alle wirtschaftlichen Branchen in Deutschland, Österreich und der Schweiz (DACH) erstreckt. Auf Basis dieser Reichweite gewinnt der Industrieverband fundierte Einblicke in die digitalen Herausforderungen im DACH-Markt.

Walter Schinnerer (Bild: DSAG)
Walter Schinnerer (Bild: DSAG)
Michael Pfeil (Bild: DSAG)
Michael Pfeil (Bild: DSAG)